November 8 to December 21, 2013

Annabelle Craven-Jones: Schematic for Neurotic Structures (Triangulation)

 

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Mit ihrer zweiten Einzelausstellung bei Cruise & Callas begibt sich Annabelle Craven-Jones mitten hinein in das Wirken der vernetzten Welt. Der Künstlerin geht es nicht um eine Nachahmung der Oberflächen und der Ästhetik der Cyberwelt, denn dies hieße, deren Aus- und Einwirkungen außen vor zu lassen. Stattdessen eröffnen uns Craven-Jones‘ Arbeiten Sinn und Bedeutung neuer multipler Identitäten. Ihre psychologisch provokativen Dreiecksstrukturen laden uns ein, uns selbst und unsere Bewegungen im digitalen Raum zu betrachten.


In der Ausstellung mit dem Titel „Schematic for Neurotic Structures (Triangulation)“ positionieren sich posthumane (1) Identitäten zwischen virtuellen Bildschirmen und analogen Spiegeln: Es sind polyphone Repräsentationen des Selbst, denen die Künstlerin innerhalb eines psychologischen Diagramms einen Platz  zuweist. Die Repräsentationen begegnen sich, sie sind gezeichnet, aufgezeichnet und wiedergespiegelt.

Craven-Jones macht den gesamten Galerieraum zur Grundfläche ihres Diagramms, indem sie die Wände und den Boden durch neongelbes Klebeband verbindet. Die Arbeit, „Neurotic Structure (Schema)“, besteht aus zwei sich überschneidenden Dreiecken, die ein drittes ergeben. Den drei entstehenden Flächen ordnet die Künstlerin mit neongelber Vinylschrift drei Bereiche zu – das idealisierte Selbst, die Neurose und die Selbstverwirklichung. Die auf dem Boden angebrachten Wörter zitieren psychologische Begriffe der deutschen Neo-Freudianerin Karen Horney und wiederholen sich in grauer Schrift gespiegelt auf den Schaufenstern der Galerie. Die neongelbe Dreiecksstruktur spiegelt die Künstlerin stattdessen in den Galerieraum hinein, die grauen Linien erstrecken sich, verzerrt durch die Raumarchitektur, über die Wände. In für ihre Arbeit typischer Weise nutzt Craven-Jones hier die Zerlegung in Dreiecke als ein auf Struktur und Zeit basierendes Modell, um verschiedene Theorien des Selbst darzustellen.


Die Teilbereiche des Diagramms veranschaulicht die Künstlerin in weiteren Arbeiten: Zentral ist die Installation „Neurotic Structure (Live)“, die aus vier Spiegeln besteht, die mit Magneten zusammengehalten werden. Im Inneren der analogen Dreiecksstruktur steht eine Webcam. Die Reflektionen der Spiegel erzeugen eine unendliche Landschaft und spielen ungezwungen auf das idealisierte Selbst an. Die Spiegelstruktur taucht ein weiteres Mal in der Ausstellung auf, ihr Inneres ist, aufgezeichnet von einer Webcam, auf einem Monitor zu sehen, der an einer Wand in der Galerie lehnt. Das Double befindet sich im Atelier der Künstlerin in Bristol und ist über eine Chatverbindung permanent mit der Galerie in Berlin verbunden. Für die Dauer der Ausstellung wird Craven-Jones innerhalb ihres Spiegelmodells zweimal wöchentlich so genannte „Live-Experimente“ durchführen, die zu festen Terminen in der Galerie verfolgt werden können. Hier treten Atelier und Galerie in eine Konversation. Indem die Künstlerin sich zur Dominanten über die Aspekte der Selbstreflexion künstlerischer Produktion und ihrer Rezeption macht, wird der Livestream zum Wiedergabegerät des neurotischen Selbst, des verzerrten Blicks auf sich selbst.


Das Video- und Audiomaterial aus den Chatkonversationen findet dann in wöchentlich aktualisierter und editierter Weise Eingang in die Videoarbeit „Neurotic Structure (Thought)“. Es ist als eine externalisierte Form der Selbstverwirklichung auf einem Monitor zu sehen, das verwirklichte Selbst wird hier produziert und fortlaufend ergänzt. Gleichzeitig hacken sich die parallel zu hörenden Bruchteile eines gesprochenen Pseudo-Selbst-Hilfe-Textes ins Bewusstsein des Besuchers. Die digitale Stimme, die abwechselnd Englisch und Deutsch spricht, überschneidet den Bewusstseinsstrom des Betrachters mit dem Livestream der digitalen Kommunikation.


In der doppelseitigen Zeichnung „interface (wound)“, die über einen fluoreszierenden Acrylstab in den Raum gehängt ist, materialisiert sich der abwesende Körper. Craven-Jones hat sich auf einer Papierbahn gelegt und ihren Körper mit einer Linie umfahren. Eine indirekte Hommage an Bruce Nauman, ist die Künstlerin hier sowohl Subjekt als auch Objekt ihrer Erforschung von Möglichkeiten der Projektion und der Grenzen, die das Reale vom Imaginierten trennen. Drei Eckpunkte des körperlichen Grundrisses sind angesengt, die Fingerspitzen mit Pigmenten, die zur Herstellung von Make-up verwendet werden, hautfarben getönt. Den selbstrealisierenden Akt hat Craven-Jones in einem zur Zeichnung gehörenden Videoloop dokumentiert, der auf einem Ipod-Display zu sehen ist.


In den letzten Jahren hat Craven-Jones buchstäblich eine eigene Sprache entwickelt. Zu ihren charakteristischen Anleihen aus der Psychologie und Psychotherapie treten nun Elemente aus der virtuellen Welt wie der Livestream hinzu, die uns helfen, unsere Hyperpräsenz im Netz und den Jetlag, den wir offline empfinden, zu verstehen. Wir leben im immanenten Hier, doch Skype erfordert eine erschöpfende Ko-Präsenz von uns. Wie kann dieses Umschalten in eine dreipolige Struktur (2) beitragen zur stetig anwachsenden Bedeutung subjektiver Formierung?


Annabelle Craven-Jones, 1977 in Gloucestershire geboren, studierte Kunst an der Wimbledon School of Art in London und absolvierte eine Grundstudium in Kunst-Psychotherapie an der Universität Roehampton in London. Ihre Praxis befasst sich mit dem Post-humanen, das sich an der Schnittstelle von Physischem und Digitalem transformiert. Indem sie Tätigkeiten des alltäglichen Lebens ausführt und diese zugleich reflektiert, zeigt Craven-Jones in künstlerischer Weise, wie mediale Identitäten Teil eines größeren Kreises von körperlichen, technologischen und kulturellen Systemen sind.

 

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(1) Zum Post-Humanismus und „offline jetlag“ siehe Rosi Braidotti: „The Post Human“, 2013.
(2) ausgehend von einer klassischen, dialogischen Struktur (A.d.Ü.)

 

Annabelle von Girsewald

 

 

english version


Rather than mimicking the interface and aesthetics of the cyber world and negating its effect, Annabelle Craven-Jones’ takes her effect to the 100th degree. For her second solo show at Cruise & Callas Craven-Jones translates how we can make sense of new multiple identities. She invites the viewer to look at how we engage in the cyber world through her psychologically provocative triangulation.

Post-human (1) identities position themselves between the virtual screen and the analogue mirror in the exhibition entitled „Schematic for Neurotic Structures (Triangulation)“. Polyphonic representations of the self are positioned within a psychological diagram. These representations are encountered, drawn, recorded and reflected. The gallery’s interior surface including its walls and floor is linked together by neon yellow tape. The artist maps visible sections belonging to the idealized self, neurosis, and self-realization, creating a three part triangular diagram. Vinyl lettering, quoting psychoanalytical terms that have been coined by the German Neo-Freudian Karen Horney, have been applied to the floor and the windowpanes looking into the gallery. A diagram on the floor is repeated with grey tape on the walls extending the limits of the gallery‘s architecture. Typical for Craven-Jones this triangulation serves as a model based on structure and time to present theories of the self.

Sections of this diagram are exemplified within each of the exhibited works. Central to the exhibition is an analogue structure of three mirrors held together by magnets in the shape of a triangle which contains a small digital web camera. The reflections produce an endless landscape and casually allude to the idealized self. Another of these structures is located in the artist’s studio in Bristol. For the length of this exhibition Annabelle Craven-Jones will conduct live experiments from within the structure in her studio on Thursdays at 5 pm and on Saturdays at 2 pm, taking control of the aspects of the self-reflectivity of artistic production and our reception of it. The experiments can be seen via live stream over Skype on the large screen monitor leaned on a gallery wall. The studio and gallery will enter a Skype-conversation. The live stream presents the neurotic self, a distorted way of looking at oneself. The Skype footage will be edited weekly and played on a monitor as an external form of self-realization. The actualized self is produced and film footage will continuously be added. Parallel to the live stream, a spoken text of a pseudo self-help guide will be heard, thereby audibly hacking into the viewer’s consciousness. The digital voice that speaks first in English and then in German will take the viewer through the process of an online stream of consciousness.

The absent body is materialized. The artist has drawn lines around her own body while lying on a long sheet of paper. An indirect homage to Bruce Nauman, Craven-Jones becomes both subject and object while investigating the possibilities of projection and the boundaries separating the real from the imagined. The edges
of the bodily outline are burned at three points while the finger tips are colored in flesh tones from pigment found in make up foundation. The two-fold visualization of the body is hung over a fluorescent acrylic rod suspended from the ceiling. Craven-Jones documents her self-realized act into a looped film, which can be viewed from the screen of an iPod.

Over the years literally developing her own language through the use of surveillance video and live streams, Craven-Jones helps us to make sense of our hyper-presence online and the jetlag we feel offline. We live in the immanent here yet Skype demands an exhaustive copresence. How can triangularization contribute to the ever-increasing signification of subject formation?

Annabelle Craven-Jones born 1977 in Gloucestershire received her MA in Fine Art Sculpture from the Wimbledon School of Art London and most recently completed a Foundation Course in Art Psychotherapy at University of Roehampton London. Craven-Jones’ practice draws attention to the transforming post-human element between physical and digital interface. Permeating while simultaneously reflecting activities from our daily lives, Craven-Jones creatively presents how mediated identities are a part of a larger circle of bodily, technological, and cultural systems.

 

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(1) For further discussion of post humanism and off line jetlag see “The Post Human” by Rosi Braidotti, 2013.

 

Annabelle von Girsewald