Ralf Dereich: Freel
Keine Schönheit ohne Gefahr
von Daniela Stöppel
Es ist ja doch interessant: Da haben wir nun gut hundert Jahre abstrakter Malerei hinter uns, die – weltanschaulich – nicht gerade unproblematisch waren, und dennoch blüht aktuell erneut eine künstlerische Praxis, die man getrost als „reinmalerisch“ bezeichnen könnte. Nur kurz zur Erinnerung: Heute üben die frühen Abstraktionen von Kandinsky, Mondrian, Malewitsch, af Klint, Doesburg und vielen anderen aufgrund ihrer spirituellen, esoterischen oder gar spiritistischen Ideen zwar immer noch eine große Faszination aus, sind aber aufgrund der ihnen inhärenten Metaphysik für das Projekt der Aufklärung mehr oder weniger unbrauchbar geworden; auch Tachismus und Informel der Nachkriegszeit wurden – vor allem wegen ihres universalen Anspruchs auf Unmittelbarkeit und Authentizität – zurecht in Frage gestellt; ebenfalls diskreditiert erscheint der amerikanische Expressionismus, den die jüngere kunsthistorische Forschung als vom politischen Westen vereinnahmt und instrumentiert entlarvt hat; (zumal uns das Exzessiv-Genialische von Pollock oder de Kooning mit seinem aufdringlichen Existenzialismus eher auf die Nerven geht, als dass wir in Alkoholwahn und Drogenrausch noch ein nachahmenswertes (Künstler-)Lebensmodell sehen würden.) Nicht zuletzt an Greenbergs modernistischer Theorie, die allein in der Reduktion auf die malereispezifischen Eigenschaften Fläche und Farbe die Legitimation der Malerei sehen konnte, hat man sich, besonders ab den späten Sechziger Jahren leidlich abgearbeitet und ihrem Formalismus dann bekanntlich ein neues postmodernes Interesse an Inhalten, Kontexten und Codes entgegengesetzt.
Was reizt also eine jüngere Künstlergeneration, zu denen ich auch Anselm Reyle, Marieta Chirulescu, Sergej Jensen u.a. zählen würde, sich bewusst wieder den rein formalen Aspekten von Malerei zuzuwenden und in welchem Verhältnis stehen sie zum problematischen Erbe der Abstraktion? Wo liegt ihr kritisches Potential und wie geht dieses mit einer Ästhetik des Schönen – das allzu leicht mit der Harmlosigkeit des Dekorativen verwechselt wird – zusammen? An Ralf Dereichs jüngeren Bildern lässt sich dies exemplifizieren:
So spricht er, wenn er über seine Malerei redet, von „Gespür“, von einem Reagieren auf das Bild, und davon, alle expliziten Inhalte abstreifen zu wollen, um in eine Art intuitiven Dialog zwischen Maler und Bild einzutreten. Sein Ziel ist das Bild, das nicht gewollt und dem nichts aufgezwungen wird, sondern das aus einer spontanen, aber zugleich kontrollierten Geste heraus entsteht, das „mit einem Strich fertig sein könnte“. Auf dieser gedanklichen Grundlage entstehen große, querformatige Bilder, die sich durch einen lockeren und offenen, teils lasierenden, teils cremig mit den Fingern geschmierten, an manchen Stellen akzentuiert-linearen, fast kalligrafischen Farbauftrag auszeichnen. Die Farbpalette tendiert ins Pastellige, sanft gebrochene Farbtöne überwiegen. In den jüngsten Bildern scheint der mit dünnen Farblasuren wolkig in mehreren Schichten eingefärbte Leinwandgrund durch, wodurch sich ein Eindruck von schwebender Offen- und Unabgeschlossenheit einstellt. Gerade in dieser Balance liegt das Interessante dieser Bilder, indem das labile Gleichgewicht einen Augenblick des Innehaltens, einen zerbrechlichen Zustand von Harmonie herstellt, der sich jeden Moment wieder verflüchtigen oder in sich zusammenfallen könnte.
Das klingt natürlich irgendwie gefährlich nach neoromantischer Einfühlung, nach innerem, erspürten Klang, Kandinsky und Matisse, nach Begriffen und Konzepten also, die längst abgegriffen sind und allenfalls klischeehafte Vorstellungen von Malerei reproduzieren. Nach interesselosem Wohlgefallen am formalen Spiel oder der „inspiriert“-vergeistigten gestischen Abstraktion des Informel. Es wäre aber ein Missverständnis, sich Dereichs Bilder so annähern zu wollen. Vielmehr geht es in ihnen um eine sehr gezielte und durchaus kalkulierte Form von „medialer Reflexion“, welche sich eben das rein Malerische, also das Phänomen der Farbe auf der Fläche, als Gegenstand der Untersuchung und Analyse gewählt hat. Denn auch die Form, die ohne eine bestimmte Bedeutung zu haben gesetzt wird, interagiert und wirkt; sie tut etwas auf der Leinwand, sie ist präsent und löst Dinge aus. Diese Autonomie hat viele Vertreter gerade der abstrakten Malerei verführt, Form und Farbe als absolut und transzendental angelegt zu begreifen – als kosmischen Klang, als zeitlose Chiffre oder universale Harmonie. Davon ist Dereich weit entfernt. Zwar wird in seinen Bildern durchaus eine Ästhetik des Schönen zelebriert, aber nicht des Allgemeingültigen. Sie sind eher Versuch, bleiben Annäherung und Test, gleichsam selbst erstaunt über die eigene formale Wirkung. Aber gerade wegen dieses ephemeren Charakters werden seine Bilder zur ernsten Angelegenheit – denn: „Keine Schönheit ohne Gefahr“; im Annähern und Verwerfen, im gefährdeten Moment zwischen Aufhören und Weitermachen liegt hier der Erkenntnisanspruch.
Vielleicht könnte ein solcher Zugang ja sogar helfen, den Abstraktionen von Kandinsky oder Matisse wieder neu etwas abzugewinnen: Abstraktion weniger als Einfühlung, denn als Reflexion und Erforschung der reinen Oberfläche.